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Trampelpfade und Alleen

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Wenn man große Lesepläne in begrenzter Zeit ins Auge fasst, sollte man sich vielleicht nicht gerade einen tausend Seiten Wälzer aussuchen.
Da ich aber beim online-Bücherkauf immer vergesse, auf die Seitenzahl zu schauen, bin ich selbst daran Schuld.
Doch ich wollte einen Roman von George Eliot lesen und Middlemarch war definitiv eine gute Wahl.

Middlemarch von Goerge Eliot, Cover von Julis Hübner

Middlemarch von George Eliot, Cover von Julis Hübner

Sehr überraschend beim Lesen fand ich die Erzählerin. Ab und zu kommentierte sie das Geschehen, meist in Überleitungen, und der Ton dabei strahlte eine Freundlichkeit aus, die ich irgendwie auf die Autorin übertrug. Ich stelle mir George Eliot nun als warmherzige Frau vor, die all ihre Figuren gleichermaßen liebt und ihnen ihre kleinen und großen Schwächen verzeiht. Nicht wie eine Mutter, sondern wie eine sehr gute Freundin, die mit spitzen aber lieb gemeinten Neckereien den Finger mit Nachdruck auf die Wunden der Charaktere setzt.
Die fröhlichen Kommentare selbst in hochdramatischen Situationen machen das Buch zu einer durchweg vergnüglichen Lektüre. Dickens machte das auch, strahlte aber eher sachliches Verständnis und generelle Menschenliebe aus.
Eliots Anliegen ist aber wohl vor allem die Ausleuchtung ihrer Frauenschicksale gewesen. Während ich mir bei Emma Bovary nie sicher war, in wieweit sich Flaubert nun tatsächlich in die Gefühlswelt einer Frau hineinversetzen konnte, steht das bei Eliot außer Frage.
Sie kannte die Möglichkeiten und vor allem die Zwänge, die das Leben ihrer Zeitgenossinnen bestimmten und wahrscheinlich hat sie viele der Szenen selbst erlebt.
Wie schon bei Emma sind auch für die Frauenfiguren in »Middlemarch« die inneren Zwänge in ihrer Erziehung begründet. Je nach Stand wurden sie so zu weltfremden Engeln, deren Lebenszweck es zu sein schien, einen Mann glücklich zu machen ihm ein standesgemäßes Leben zu gestalten oder sie wurden zu fleißigen Haushälterinnen, deren Wirken bescheiden im Hintergrund abläuft. Allein abhängig von den Entscheidungen ihrer Gatten.
Gerade den Frauen von Stand wurde erzählt, dass es eine tolle Sache sei, nicht arbeiten zu müssen. Doch die finanzielle Abhängigkeit vom Einkommen und vom Willen des Vaters, des Bruders oder des Mannes, bedeutete immer auch eine Einschränkung des eigenen Willens.
Entscheidungen wurden stets für die Frau getroffen in der festen Meinung, besser als sie selbst zu wissen, was das Beste für sie sei.
Es gibt bei Eliot keine Rebellinnen. Obwohl alle weiblichen Hauptfiguren ganz eigene Schicksale durchleben, versuchen sie, ihre Wünsche und Träume irgendwie trotz der Männer zu erreichen. Dorothea widersetzt sich dem testamentarischen Heiratsverbot und folgt ihrem Herzen, Rosamond unterläuft die Sparzwänge um in ihrer Prinzessinnenwelt leben zu können und Mary gibt ihrem Geliebten solange Körbe, bis er endlich verantwortungsbewusst genug für eine Ehe geworden ist.
Jede von ihnen findet irgendwie eine Möglichkeit, mit der Männerwelt zurecht zu kommen. Trampelpfade und Alleen. Und doch bleiben sie in ihren Rollen.

Es gibt auch Männerfiguren in »Middlemarch«. Auch durchaus interessante und mit eigenen Handlungssträngen, aber letztlich dreht sich der Roman um diese drei jungen Mädchen.

Derartige englischen Romane aus dem 19. Jahrhundert hinterlassen bei mir immer so ein Kaminzimmer-Gefühl. Klischee, ich weiß, aber es ist ein angenehmes Gefühl. Und ehrlicherweise betrifft es nicht nur die englischen Werke.

Der Fokus in der Rezi ist etwas anders als hier im Blog und ich habe immer noch nicht alles geschrieben, was mir zu »Middlemarch« im Kopf rumschwirrt. Es ist aber auch ein übervolles Buch!


9 Kommentare

  1. christahartwig sagt:

    In mir wecken englische Romane aus dem 19. Jahrhundert immer den Wunsch, endlich hinter das Geheimnis „delikater Gurkenschnittchen“ zum Tee zu kommen. Ich habe jeden Engländer und jede Engländerin, deren ich habhaft werden konnte, befragt, und offenbar handelt es sich bei diesen Schnittchen um dünne Weißbrotscheiben, von denen die Kruste abgeschnitten wurde, dünn mit Butter bestrichen und mit dünnen Gurkenscheiben belegt (vielleicht auch leicht gesalzen), und ich weiß nicht, wie man für seine delikaten Gurkenschnittchen berühmt sein kann, aber ich gäbe was drum, wenn es mir gelänge.

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    • lapismont sagt:

      Wir haben keine Gurkenschnittchen gesehen, aber leckere Scones. Cream Tea ist eine feine Erfindung!
      In Middlemarch tauchen die Schnittchen auch auf. Das Wort lecker in diesem Zusammenhang werde ich wohl mangels Vorstellungskraft überlesen haben. Erinnert mich an finstere Jugendzeiten, als meine Mutter versuchte, mein Gewicht in den Griff zu bekommen.
      Magerbutterstullen mit Radieschen oder Gurke. Bäh.

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      • christahartwig sagt:

        Ich erinnere Stullen, mit Gurke, Radieschen oder Tomaten (mit Zwiebeln) belegt, als etwas ganz Normales. Da bedurfte es keiner Diät als Vorwand. Im Sommer war die „Gärtnerwurst“ eben billiger als die vom Fleischer. Heute bevorzuge ich allerdings Bruschetta, wenn es um Brot mit Gemüse drauf geht. – Aber das ist ja eben das Faszinierende an den literarischen Gurkenschnittchen: Sie beschäftigen die Phantasie, eben weil es so schwierig ist, sie sich als besonders delikat vorzustellen. Man träumt von dem Aroma, das Gurken vor hundert Jahren noch hatten …

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      • lapismont sagt:

        Das ist tatsächlich eine schöne Sache!

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    • texte-jon sagt:

      Wenn du es ausprobiert hast, wirst du wissen, was gemeint ist. Vorstellung hilft da nicht, weil die Zutaten in dieser Verwendung nicht einfach nur nach „weniger von XY“ schmecken, sondern einen neuen „Ton“ bekommen. Der Trick ist nämlich, wirklich nur sehr wenig Butter und wirklich dünne (3-4 mm) Scheiben (junger) Gurken zu verwenden. Letzteres ist überhaupt ein Supertrick für alle Sandwiches mit mitteldeftigem Belag (z.B. dünne Kochschinkenscheiben, Hähnchenbrustaufschnitt oder dergleichen).

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      • christahartwig sagt:

        Ah, ja … Meinen aufrichtigsten Dank für den Gourmettipp. Das mit den jungen und dazu noch frischen Gurken ist in Berlin oft problematisch, wenn man keinen eigenen Garten hat. Der eigene Garten gehört in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts ja fast zwangsläufig dazu. Ich stelle fest: „Wenn die Butter so dick ist wie das Brot, und der Belag so dick wie beides zusammen, kann das Brot so Dick sein, wie es will“ war nur so ein dummer Spruch aus Jugendherberstagen, als das Verhältnis zwischen Brot und dem, was man drauf tun konnte, allerdings wirklich beklagenswert war.

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  2. texte-jon sagt:

    “ Das mit den jungen und dazu noch frischen Gurken ist in Berlin oft problematisch,“ – Nicht nur da, nicht nur da …

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  3. […] sie schreibt. Ich finde das sehr faszinierend, eben weil es mir in der SF nicht oft begegnet. Bei George Eliot spürte man die Echtheit der Frauen auch. Vielleicht, weil hier wie dort, die Frauen in ihren […]

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  4. […] anderen Rosamond, die sich einen Prinzen erträumte und etwas realitätsfern auftrat, nämlich in George Eliots Middlemarch. Selbst der Bela B. liefert noch eine Verknüpfung. Immerhin war ich ja dieses Jahr in einer […]

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