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Adams fruchtbare Lenden

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Vor einem Jahr bereits versenkte ich mich in die Freuden der Autobiographie von Mark Twain. Nun habe ich den zweiten Band dieser Köstlichkeit verschlungen und bin erneut des Lobes voll. Und natürlich bis oben hin aufgefüllt mit gedrechselten Sätzen.

Twain
Mark Twain – Neue Geheimnisse meiner Autobiographie

Es gibt natürlich einige Wiederholungen, da Twain seine Diktate nicht nach einem System durchführte, sondern nach Tagesform und Inspiration. Er ließ sich von seinen Erinnerungen und vom aktuellen Tagesgeschehen leiten, sodass sich die Anlässe von allein er- und die Klinke in die Hand gaben.

Quasi schuf Sam Clemens damit den ersten Blog. Wenn auch analog.

Zu den wieder aufgegriffenen Themen gehört etwa Ulysses Grant, Bürgerkriegsgeneral und US-Präsident. Twain verlegte seine Memoiren und eine kurze Suche nach ihnen im Netz ergab, dass Echtbuchausgabe auf Deutsch eine bedeutende Investition darstellen. Jedenfalls mehr, als mein beiläufiges Interesse rechtfertigen will und das eBook könnte ich mir ja ausdrucken …

Fortgesetzt wird auch der Abdruck der Biographie, die Twains Tochter Susy als Kind über ihn verfasste. Das ist herzallerliebst, gerade auch in der liebevollen Kommentierung durch Sam Clemens und vor allem immer wieder auch todtraurig, da sie so früh starb.

Überhaupt erfährt man einiges mehr aus dem privaten Familiengeschehen, stets ironisch gebrochen und mit vielen Zwinkern und offensichtlichen Flunkereien. Etwa als er während des Vorlesens eines Buches für Tochter Jean ganz in Begeisterung und schallendem Gelächter verfällt und von Kind darob wegen ungebührlicher Eitelkeit gerügt wird. Die Behauptung, das Buch wäre völlig neu für ihn, mag glauben wer will, denn vermutlich dürften damals die meisten Huckleberry Finn nach wenigen Sätzen erkannt haben. Aber mit seiner Eitelkeit und seinem Selbstbewusstsein spielt Sam Clemens kokett fast auf jeder Seite.

Richtig böse wird er aber auch und dazu noch genial gekonnt. Die teuflischen Gräuel des belgischen Königs im Kongo lassen ihn mehrfach explodieren, ebenso die Stimmenkäufe amerikanischer Politiker oder die Idiotie des Urheberrechts.

Hier habe ich tatsächlich für mich einen völlig neuen Blickwinkel vor Augen geführt bekommen. Twain argumentiert, dass ein zeitlich begrenztes Urheberrecht letztlich nur für extrem wenige Autorinnen und Autoren relevant sei, da kaum ein Werk die damals geltenden 40 Jahre überdauerten. Für die Wenigen aber, die auch danach noch Tantiemen erwarten könnten, wäre es eine Enteignung ohne Gleichen. Twain war es wichtig, dass seine Töchter nach seinem Tod versorgt sind, denn Arbeit war für sie gesellschaftlich nicht vorgesehen.

Dass ich mich hinstelle und ein Urheberrecht ablehne, hat viel damit zu tun, dass ich zu den 98% von Künstlern gehöre, die nix damit verdienen. Twain bemängelt zu Recht, dass jenen ein Verschenken fremden Eigentums nicht zustände.

Das war schon ein Augenöffner, auch wenn einige Teile der Argumentation nicht mehr aktuell sein mögen. Twain geht auf diese Debatte mehrfach ein.

Fast genauso pointiert böse und hintergründig sind die vielen Stiche, Seitenhiebe und Planierungen, mit denen er die Kirche und Religion in Grund und Boden stampft. Dazu fällt ihm immer wieder etwas ein. Jede dumme Bemerkung eines Priesters wird genüsslich auseinandergenommen in kleinen Fetzen in die entsprechenden Mäuler zurückgestopft. Großartig, um nicht gleich göttlich zu brüllen. Zur Not lässt sich jeder Zufall auf Adams fruchtbare Lenden zurückführen.

Recht ausführlich geht er auch auf seine gescheiterten Geldanlagen und Verlagsprojekte ein. Hier spürt man, dass er aus der Sicherheit des Grabes schreibt, auf die er ebenfalls sehr augenzwinkernd mehrfach hinweist.

Spannend ist in diesem Zusammenhang auch sein Treffen mit Wilhelm II., dessen Eigenheiten Twain nicht öffentlich lächerlich machen wollte. Nur wenige Jahre bevor der Knilch den Ersten Weltkrieg lostrat. Das hätte Twain sicherlich umgestimmt.

Zumal er in der US-amerikanischen Politik Tendenzen sah, in eine Monarchie zurückzufallen. Hier irrte der feinsinnige Menschenbeobachter.

Unter den tagesaktuellen Beiträgen ist sicher ganz besonders das furchtbare Erdbeben von San Francisco 1906 beeindruckend. Mitten in den Erinnerungen atmet man Zeitgeschichte. Echtes Bloggerfeeling!

Großartige Bücher, genialer Autor und ich konnte nicht anders und habe alle Lektürepläne für ihn über den Haufen geworden. Trefft mich die nächsten Tage bei Huck Finn und Jim!


9 Kommentare

  1. christahartwig sagt:

    Ein großartiger Eintrag und eine wirklich interessante Lektüre-Empfehlung. Danke dafür.
    Mit: „Dass ich mich hinstelle und ein Urheberrecht ablehne, hat viel damit zu tun, dass ich zu den 98% von Künstlern gehöre, die nix damit verdienen. Twain bemängelt zu Recht, dass jenen ein Verschenken fremden Eigentums nicht zustände“, sprichst Du etwas an, worüber ich oft nachgedacht und mich selbst getadelt habe. Auch dafür danke!

    Übrigens: Nichts gegen gedrechselte Sätze! Ich genieße die Hochsprache in er Literatur des 19. Jahrhunderts ebenso, wie ich vor einer gepflegten, geistvollen Gegenwartssprache den Hut ziehe.

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  2. finbarsgift sagt:

    Mit großer Freude am frühen Morgen diese feine, hochinteressante Buchbesprechung gelesen 🙂

    Dankeschön dafür!
    Liebe Morgengrüße vom Lu

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  3. finbarsgift sagt:

    Ps:
    Übrigens ist für mich Marc Aurel der erste Blogger! *lächel*

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    • lapismont sagt:

      Dachte mir schon, dass jemand noch frühere Beispiele findet 😀
      Die ollen Römer mochte ich nie so recht. Die Götter heißen falsch, wegen ihnen brannte die Bibliothek von Alexandria und sie besiegten die Griechen. Sehr unsympatisch.
      😉

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